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Ruhe, die nervt

Wie Nick Klessing und Hubert Brylok die Ausnahmesituation meistern und welche Auswirkungen die Olympia-Verschiebung beruflich und privat hat.



Die Zweisamkeit hatte bisher Seltenheitswert. Nun aber, also in jener Zeit, in der das Coronavirus bei den Leistungssportlern den Rhythmus bestimmt, ist auch Nick Klessing von der Abgeschiedenheit eingeholt worden. Die Osterfeiertage verbrachte Halles Turn-Ass mit seiner Sandra in den eigenen vier Wänden. „Ich weiß gar nicht, wann ich das zuletzt mal so erlebt habe“, sagt Klessing. Diese Ruhe, eine Zeit ohne jeglichen Termindruck.

Eigentlich wäre er jetzt ja in der heißen Phase vor der EM, der ersten großen Meisterschaft der Turner immer im Frühjahr. Doch die kontinentale Bestenermittlung Anfang Mai in Baku ist gestrichen worden. Und Olympia, wie hinlänglich bekannt, um ein Jahr verschoben. Wenn überhaupt, dann geht es für die Turner wohl frühestens im Herbst mit der Bundesliga weiter. Und das Turnier der Meister im November bietet möglicherweise noch die Chance, sich 2020 auch international einmal zu zeigen.

Viel Zeit ist noch bis dahin. Also muss jetzt nicht auf Teufel komm raus trainiert werden. „Lerntraining“ ist stattdessen angesagt, wie Klessing es nennt, wenn er neue Elemente einstudiert, die bis nächstes Jahr in Fleisch und Blut übergehen sollen. Keine EM, keine Belastung bis zum Anschlag, dafür Erholung mit der Freundin außerhalb des Trainingsalltags - „das“, sagt Klessing, „ist auch mal schön“.


Nick Klessing wünscht sich einen Trainingspartner


Die Zweisamkeit über die Woche aber, die empfindet der 22-Jährige als „nervig“. Nur mit dem Trainer in der Turnhalle, „das ist schon ein Problem“, verrät der SV-Athlet. Dabei versteht er sich mit seinem Coach Hubert Brylok ausgesprochen gut. „Irgendwann geht einem aber doch der Gesprächsstoff aus“, sagt der 60-jährige Trainer. Auch er hat die freien Stunden daheim genossen, „zum ersten mal seit 33 Jahren war ich über Ostern bei meiner Familie zu Hause“, bestätigt der Meistermacher das Novum.

Am Dienstag dann ging es auch für Brylok und seinen Schützling an Pauschenpferd, Barren, Reck und Sprungtisch weiter. Ganz allein in der Turnhalle am Stützpunkt in der Koch-Straße. Dort, wo sonst durch Sportschüler oder Kinderturnen geschäftiges Treiben herrscht, dürfen Klessing und Brylok dank einer Ausnahmegenehmigung des Landesverwaltungsamtes weiter die Salti, Flanken oder Stützkehren üben. Denn der SV-Turner hat Olympia nach wie vor vor Augen. Nur eben nicht in diesem Sommer, sondern nächstes Jahr will der WM-Achte vom SV Halle sich seinen Traum von den Spielen erfüllen.

„Wir machen gerade viel Athletik“, erklärt Brylok den modifizierten Plan, spricht von muskulärer Absicherung. Klessings Körper soll noch besser darauf vorbereitet werden, mit den enormen Belastungen klar zu kommen. Und die sind tatsächlich enorm. Physisch ohnehin, denn Turnen auf allerhöchstem Niveau erfordert langes, ausdauerndes Training. Aber auch psychisch führen die veränderten Bedingungen bis an die Grenze des Machbaren. „Natürlich wäre es einfacher, wenn Nick einen Trainingspartner hätte“, weiß Brylok um die Besonderheit der Situation.


Nick Klessing muss auch beruflich umplanen


Und dann ist ja da auch noch das Motivationsproblem. Das Wissen, sich gerade auf eine große Meisterschaft vorzubereiten, hat sich als Motor bewährt. Wann aber wird die nun sein? In einem Jahr? So richtig weiß noch keiner, wie es wann womit weitergeht.

Das gilt übrigens nicht nur fürs Turnen. Auch seine beruflichen Pläne muss Klessing überdenken. Normalerweise sollte der angehende Bundespolizist Anfang 2021 in Kienbaum seine Ausbildung abschließen. Doch geht das mit all den Prüfungen, wenn die Olympia-Qualifikation ansteht? Ist die erste von zwei Bestandsaufnahmen für Tokio möglicherweise bei den nationalen Titelkämpfen während des Deutschen Turnfestes im Mai in Leipzig?

Danach wollten Klessing und seine Sandra heiraten. Unbeschwert sollte der Start in den neuen Lebensabschnitt erfolgen. Doch mit Olympia vor Augen wird der Kopf sicher nicht frei sein. „Wir werden die Hochzeit deshalb wohl auf die zweite Jahreshälfte verschieben“, sagt Klessing. Und auch mit seinen Ausbildern bei der Bundespolizei, davon ist er überzeugt, findet sich eine Lösung.


Kopf frei für Olympia 2021: Nick Klessing verschiebt Hochzeit mit Freundin Sandra


Zumindest eines ist aber schonmal geklärt. Der Weltturnverband FIG will mit seiner Änderung der Wertungsvorschriften bis nach Olympia warten. „Nur gut, sonst hätten wir alle Übungen umstellen müssen“, sagt Brylok. Wobei die eine oder andere Änderung schon noch von ihnen selbst vorgenommen wird. Die Übungen sollen weiter aufgewertet werden. Da spielt Klessing die Verschiebung der Spiele wohl mehr in die Karten als den älteren Auswahlkollegen wie Marcel Nguyen oder Andreas Toba, die 2021 mit dann 33 bzw. 30 Jahren schon im sehr fortgeschrittenen Turneralter sein werden.

Klessing will die Zeit nutzen, um einen zweiten Sprung zu lernen, mit dem er international konkurrenzfähig ist. Der Doppel-Tsukahara gebückt, also ein Rad mit anschließender Vierteldrehung und zwei Salti in gebückter Ausführung, hat einen hohen Ausgangswert, der Bedingung ist, will man ganz vorn mitmischen. Auch an den anderen Geräten soll noch einiges an Schwierigkeiten draufgepackt werden. Aus der Not der Verschiebung wollen Trainer und Turner eine Tugend machen. Das hilft Klessing auch dabei, beruflich und privat alles noch einmal neu zu terminieren.

Und selbst mit der gespenstigen Ruhe in der Halle lernt der unaufgeregt herüberkommende Sportsmann immer besser, sich zu arrangieren. Auch wenn Klessing als Nationalmannschaftsturner eher zu den Youngstern gehört, hat er doch auch schon viel gelernt. Dazu gehört, mit Widrigkeiten fertig zu werden wie der ungewohnten, manchmal nervigen Zweisamkeit. (mz)



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